Walter Benjamin zu Franz Kafka

Walter Benjamin (* 15. Juli 1892 in Berlin; † 26. September 1940 in Portbou)

Kommentare und Rezensionen zu Franz Kafka

Gesammelte Schriften – ZWEITER BAND. Zweiter Teil

Literarische und ästhetische Essays (Fortsetzung)

Walter Benjamin in Paris, 1937Franz Kafka
Walter Benjamin in Paris, 1939 __________________ Franz Kafka_______

 


Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Inhaltsverzeichnis

Potemkin

Ein Kinderbild

Das Bucklicht Männlein

Sancho Pansa

 


 

Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages

Potemkin

Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer auf strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wußte man, daß jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lange. Ernste Mißstände waren die Folgen; in den Registraturen häuften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift Potemkins unmöglich war, von der Zarin gefordert wurde. Die hohen Beamten wußten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwalkin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsräte wie geöhnlich jammernd und klagend beisammen standen. „Was gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?“ bemerkte der eilfertige Schuwalkin, „überlassen Sie mir die Akten. Ich bitte darum.“ Die Staatsräte, die nichts zu verlieren hatten, ließen sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbündel unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum Schlafzimmer Potemkins ein. Ohne anzuklopfen, ja ohne haltzumachen, drückte er die Türklinke nieder. Das Zimmer war nicht verschlossen. Im Halbdunkel saß Potemkin auf seinem Bett, nägelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schuwalkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand, den erstbesten Akt auf seine Knie. NAch einem abwesenden Blick auf den Eindringling, wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unterschrift, dann eine zweite; weiter die sämtlichen. Als die letzte geborgen war, verließ Schuwalkin ohne Umstände, wie er gekommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Triumphierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm entgegen stürzten die Staatsräte, rissen die Papiere aus seinen Händen. Atemlos beugten sie sich darüber. Niemand sagte ein Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin näher, wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Bestürzung der Herren. Da fiel auch sein Blick auf die Unterschrift . Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin . . .

Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt. Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die ‚Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt. Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt mit leeren Händen da steht, ist Kafkas K. Potemkin aber, der halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu dem der Zugang untersagt ist, dahindämmert, ist ein Ahn jener Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachböden, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr versinkende sind, dafür aber noch in den Untersten und in den Verkommensten – den Türhütern und den altersschwachen Beamten – auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können. Worüber dämmern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Vielleicht halten sie darum den Kopf „so tief auf die Brust gesenkt, daß man kaum etwas von den Augen“ sieht, wie der Schloßkastellan auf seinem Porträt oder Klamm, wenn er mit sich allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur daß schon das Alltäglichste ihr Gewicht hat: „Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.“ – Georg Lukács hat einmal gesagt: um heute einen anständigen Tisch zu bauen muß einer das architektonische Genie von Michelangelo haben. Wie Lukács in Zeitaltern so denkt Kafka in Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen. Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus sonderbarem Anlaß klatschen Kafkas Figuren in die Hände. Einmal jedoch wird beiläufig gesagt, daß diese Hände „eigentlich Dampfhämmer“ sind.

In ständiger und langsamer Bewegung – versinkend oder steigend – lernen wir diese Machthaber kennen. Furchtbarer aber sind sie nirgends, als wo sie aus der tiefsten Verkommenheit sich heben: aus den Vätern. Den stumpfen altersschwachen Vater, den er soeben sanft gebettet hat, beruhigt der Sohn: „’Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.‘ – ,Nein!‘, rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decle zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. ,’Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich! … Den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen.‘ Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht. ‚Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!“Der Vater, der die Last des Dechbetts abwirft, wirft eine Weltlast mit ihr ab. Welttalter muß er in Bewegung setzen, um das uralte Vater-Sohn-Verhältnis lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen! Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vatei ist der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an. Viel deutet darauf hin, daß die Beamtenwelt und die Welt der Väter für Kafka die gleiche ist. Die Ähnlichkeit ist nicht zu ihrer Ehre, Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht sie aus. Die Uniform des Vaters ist über und über fleckig; seine Unterwäsche ist unsauber. Schmutz ist das Lebenselement der Beamten. „Es war ihr unverständlich, wozu es überhaupt Parteienverkehr gab. ‚Um vorn die Haustreppe schmutzig zu machen‘, hatte ihr einmal ein Beamter auf ihre Frage, wahrscheinlich im Ärger, gesagt, ihr aber war das sehr einleuchtend gewesen“. In dem Grade ist Unsauberkeit das Attribut der Beamten, daß man sie geradezu als riesenhafte Parasiten ansehen könnte. Das betrifft natürlich nicht die wirtschaftlichen Zusammenhänge, sondern die Kräfte der Vernunft und der Menschlichkeit, von denen diese Sippe ihr Leben fristet. so fristet aber auch der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem Sohn sein Leben, liegt wie ein ungeheurer Parasit auf ihm. Er zehrt nicht nur an seiner Kraft, er zehrt an seinem Rechte dazusein. Der Vater, der der Strafende ist, ist zugleich auch der Ankläger. Die Sünde, deren er den Sohn bezichtigt, scheint eine Art von Erbsünde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung, welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als den Sohn: „Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.“ ‚Wer aber wird dieser Erbsünde – der Sünde einen Erben gemacht zu haben – bezichtigt wenn nicht der Vater durch den Sohn? Somit wäre der Sündige der Sohn. Nicht aber darf man aus dem Satze Kafkas schließen, daß die Bezichtigung sündig sei, weil falsch. Nirgends steht bei Kafka, daß sie zu Ünrecht erfolgt. Es ist ein immerwährender Prozeß, der hier anhängig ist, und es kann auf keine Sache ein schlechteres Licht fallen als auf die, für die der Vater die Solidarität dieser Beamten, dieser Gerichtskanzleien in Anspruch nimmt. An ihnen ist eine grenzenlose Korrumpierbarkeit nicht das schlechteste. Denn ihr Kern ist von solcher Beschaffenheit, daß ihre Bestechlichkeit die einzige Hoffnung ist, die die Menschlichkeit in ihrem Angesicht hegen kann. Zwar verfügen die Gerichte über Gesetzbücher. Man darf sie aber nicht sehen. „‘. . . es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird“‘, mutmaßt K. Gesetze und umschriebene Normen bleiben in der Vorwelt ungeschriebene Gesetze. Der Mensch kann sie ahnungslos überschreiten und so der Sühne verfallen. Aber so unglücklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Eintritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall sondern Schicksal, das sich hier in seiner Zweideutigkeit darstellt. schon Hermann Cohen hat es in einer flüchtigen Betrachtung der alten Schicksalsvorstellung eine „Einsicht, die unausweichlich wird,“ genannt, daß es seine ,Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen.“ So steht es auch mit der Gerichtsbarkeit, deren Verfahren sich gegen K. richtet. Es führt weit hinter die Zeit der Zwölf-Tafel-Gesetzgebung in eine Vorwelt zurück, über die einer der ersten Siege geschriebenes Recht war. Hier steht zwar das geschriebene Recht in Gesetzbüchern, jedoch geheim, und auf sie gestützt, übt die Vorwelt ihre Herrschaft nur schrankenloser.

Die Zustände in Amt und Familie berühren sich bei Kafka mannigfaltig. Im Dorf am Schloßberg kennt man eine Wendung, die darein leuchtet. ,,’Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen.‘ ‚Das ist eine gute Beobachtung‘, sagte K., . . . ‚eine gute Beobacltung, die Entscheidungen mögen noch andere Eigenschaften mit Mädchen gemeinsam haben.’“ Deren bemerkenswerteste ist wohl, zu allem sich zu leihen, wie die scheuen Mädchen, die K. im „Schloß“ und im „Prozeß“ begegnen, und die der Unzucht im Familienschloß sich wie in einem Bette anheimgeben. Er findet sie auf seinem Weg auf Schrit und Tritt; das weitere macht so wenig Umstände wie die Eroberung des Ausschankmädchens. „Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend, aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, . . . in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.“ Von dieser Fremde werden wir noch hören. Bemerkenswert ist aber, daß diese hurenhaften Frauen nie schön erscheinen. Vielmehr taucht Schönheit in der Welt von Kafka nur an den verstecktesten Stellen auf: bei den Angeklagten zum Beispiel. ,,’Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche Erscheinung . . . Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht … es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht . . . es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet.’“

Aus dem „Prozeß“ läßt sich entnehmen, daß dieses Verfahren hoffnungslos für die Angeklagten zu sein pflegt – selbst dann hoffnungslos, wenn ihnen die Hoffnung auf Freispruch bleibt. Diese Hoffnungslosigkeit mag es sein, die an ihnen als den einzigen Kafkaschen Kreaturen Schönheit zum Vorschein bringt. Zumindest würde das sehr gut mit einem Gesprächsfragment übereinstimmen, das durch Max Brod überliefert wurde. „Ich entsinne mich“; schreibt er, „eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. ‚Wir sind‘, so sagte er, ’nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.‘ Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. ,Oh nein‘, meinte er, unsere Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.‘ – ‚So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen, Hoffnung?‘. – Er lächelte: ‚Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.’“ Diese Worte schlagen eine Brücke zu jenen sonderbarsten Gestalten Kafkas, die als einzige dem Schoße der Familie entronnen sind und für die es vielleicht Hoffnung gibt. Das sind nicht die Tiere, nicht einmal jene Kreuzungen oder Gespinstwesen,wie das Katzenlamm oder Odradek. Alle diese vielmehr leben noch im Bann der Familie. Nicht umsonst erwacht Gregor Samsa gerade in der elterlichen Wohnung als Ungeziefer, nicht umsonst ist das eigentümliche Tier, halb Kätzchen, halb Lamm, ein Erbstück aus des Vaters Besitz, nicht umsonst Odradek die Sorge des Hausvaters. Die „Gehilfen“ aber fallen in der Tat aus diesem Ringe heraus.

 

 


 

Ein Kinderbild

Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die „arme kurze Kindheit“ ergreifender Bild geworden. Es stammt wohl aus einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien sie zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigendem, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der linken Hand einen übermäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeßlich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft, in die Muschel eines großen Ohrs hineingehorcht.

Der inbrünstige „Wunsch, Indiander zu werden mag einmal diese große Trauer verzehrt haben.: „Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“ Vieles ist in diesem Wunsche enthalten. Die Erfüllung gibt sein Geheimnis preis. Er findet sie in Amerika. Daß es mit „Amerika“ eine besondere Bewandtnis hat, geht aus dem Namen des Helden hervor. Während in den früheren Romanen der Autor sich nie anders als mit dem gemurmelten Initial ansprach, erlebt er hier mit vollem Namen auf dem neuen Erdteil seine Neugeburt. Er  erlebt sie auf dem Naturtheater von Oklahoma. „Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater Oklahoma aufgenommen! Das große Theater ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!

Franz Kafka ~ Ein Kinderbild
Franz Kafka ~ Ein Kinderbild

Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!“ Der Leser dieser Ankündigung ist Karl Roßmann, die dritte und glücklichere Inkarnation des K., der der Held von Kafkas Romanen ist. Das Glück erwartet ihn auf dem Naturthater von Oklahoma, das eine wirkliche Rennbahn ist, wie das „Unglücklichsein“ ihn einst auf dem schmalen Teppich seines Zimmers befallen hatte, auf dem er „wie in einer Rennbahn“ einherlief. Seitdem Kafka seine Betrachtungen „zum Nachdenken für Herrenreiter geschrieben hatte, den „neuen Advokaten“ „hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt“ die Gerichtstreppen hatte hinaufsteigen und seine „Kinder auf der Landstraße in großen Sätzen mit verschränkten Armen ins Land hatte traben lassen, ist ihm diese Figur vertraut gewesen und in der Tat kann es auch karl Roßmann geschehen, „zersteut infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe zeitraubende und nutzlose Sprünge zu machen. Darum also kann es nur eine rennbahn sein, auf der er ans Ziel seiner Wünsche gelangt.

Diese Rennbahn ist zugleich ein Theater, und das gibt ein Rätsel auf. Der rätselhafte Ort und die ganz rätsellose durchsichtige und lautere Figur des Karl Roßmann gehören aber zusammen. Durchsichtig, lauter, geradezu charakterlos ist Karl Roßmann in dem Sinne nämlich, in dem Franz Rosenzweig in seinem „Stern der Erlösung“ sagt, in China sei der innere Mensch „geradezu charakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klassisch … Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durchschnittsmensch … Etwas ganz andres als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls.“ Wie immer man es gedanklich vermitteln mag – vielleicht ist diese Reinheit des Gefühls eine ganz besondere Waagschale des gestischen Verhaltens – in jedem Fall weist das Naturtheater von Oklahoma auf das chinesische Theater zurück, welches ein gestisches ist. Eine der bedeutsamsten Funktionen diese Naturtheaters ist die Auflösung des Geschehends in das Gestische. Ja man darf weitergehen und sagen, eine ganze Anzahl der kleineren Studien und Geschichten Kafkastreten erst in ihr volles Licht, indem man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Oklahoma versetzt. Dann erst wird amn mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen. In einem unveröffentlichten Kommentar zum „Brudermord“ hat Werner Kraft scharfblickend das Geschehen dieser kleinen Geschichte als ein szenisches durchschaut. „Das Spiel kann beginnen, und es wird wirklich durch ein Glockenzeichen angekündigt. Dieses entsteht auf die natürlicheste Weise, indem Wese das Haus verläßt, in welchem sein Büro liegt. Aber diese Türglocke, heißt es ausdrücklich, ist ‚zu laut für eine Türglocke‘, sie tönt ‚über die Stadt hin zum Himmel auf‘.“ Wie diese Glocke, für eine Türglocke zu laut, zum Himmel auftönt, so sind die Gesten Kafkascher Figuren zu durchschlagend für die gewohnte Umwelt und brechen in eine geräumigere ein. Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto öfter verzichtete er darauf, diese Gebärden üblichen Situationen anzupassen, sie zu erklären. „‚Es ist auch eine sonderbare Art,'“ heißt es in der „Verwandlung“, „’sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß.'“ Solche Begründungen hat schon der „Prozeß“ weit hinter sich gelassen. „Bei den ersten Bänken“ macht K., im vorletzten Kapitel, „halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehn.“

Wenn Max Brod sagt: „Unabsehbar war die Welt der für ihn wichtigen Tatsachen“, so war für Kafka sich am unabsehbarsten der Gestus. Jeder ist ein Vorgang, ja man könnte sagen ein Drama, für sich. Die BBühne, auf der dieses Drama sich abspielt, ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem eigenen Gesetz ihn zu durchforschen, hieße den gemalten Hintergrund der Bühne gerahmt in eine Bildergalerie hängen. Kafka reißt hinter jeder Gebärde – wie Greco – den Himmel auf; aber wie bei Greco – der der Schutzpatron der Expressionisten war – bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde. Gebückt vor Schrecken gehen die Leute, die den Schlag ans Hoftor vernommen haben. So würde ein chinesischer Schauspieler den Schreck darstellen, aber niemand zusammenfahren. An anderer Stelle spielt K. selbst Theater. Halb ohne es zu wissen, nahm er „langsam … mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen … vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hiebei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte.“ Die größte Rätselhaftigkeit mit größter Schlichtheit verbindet dieser Gestus als tierischer. Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute Strecke lesen, ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich gar nicht um Menschen handelt. Stößt man dann auf den Namen des Geschöpfs – des Affen, des Hundes oder des Maulwurfs – so blickt man erschrocken auf und sieht, daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Doch Kafka ist das immer; der Gebärde des Menschen nimmt er die überkommenen Stützen und hat an ihr einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen.

Sie nehmen aber sonderbarerweise auch dann kein Ende, wenn sie von Kafkas Sinngeschichten ausgehen. Man denke an die Parabel „Vor dem Gesetz“. Der Leser, der ihr im „Landarzt“ begegnete, stieß vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. Aber hätter er die nichtendenwollende Reihe von Erwägungenangestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka seine Auslegung unternimmt? Dies geschieht durch den Geistlichen im „Prozeß“ – und zwar an einer so ausgezeichneten Stelle, daß man vermuten könnte, der Roman sei nichts als die entfaltete Parabel. Das Wort „entfaltet“ ist aber doppelsinng. Entfaltet sich die Knospe zur Blüte, so entfaltet sich das aus Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beipring, zum glatten Blatt. Und diese zweite Art „Entfaltung“ ist der Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergnügen, sie zu glätten, so daß ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne; nämlich wie die Knospe zur Blüte wird. Darum ist ihr Produkt der Dichtung ähnlich. Das hindert nicht, daß seine Stücke nicht gänzlich in die Prosaformendes Abendlandes eingehen und zur Lehre ähnlich wie die Haggadah zur Halacha stehen. Sie sind nicht Gleichnisse und wollen doch auch nicht für sich genommen sein; sie sind derart beschaffen, daß man sie zitieren, zur Erläuterung erzählen kann. Besitzen wir die Lehre aber, die von Kafkas Gleichnissen begleitet und in den Gesten K.’s und den Gebärden seiner Tiere erläutert wird? Sie ist nicht da; wir können höchstens sagen, daß dies und jenes auf sie anspielt.

Kafka hätte vielleicht gesagt: als ihr Relikt sie überliefert; wir aber können ebensowohl sagen: sie als ihr Vorläufer vorbereitet. In jedem Falle handelt es sich dabei um die Frage der Organisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft. Diese hat Kafka umso stetiger beschäftigt, als sie ihm undurchschaubar geworden ist. Wenn im berühmten Erfurter Gespräch mit Goethe Napoleon an die stelle des Fatums die Politik gesetzt hat, so hätte Kafka – dieses Wort variierend – die Organisation als Schicksal definieren können. Und nicht nur in den ausgebreiteten Beamtenhierarchien des „Prozesses“ und des „Scllosses“ steht sie ihm vor Augen, sondern greifbarer noch in den schwierigen und unübersehbaren Bauvorhaben, deren ehrwürdiges Modell er im „Bau der Chinesischen Mauer“ behandelt hat.

„Die Mauer sollte zum Schutz für die Jahrhunderte werden; sorgfältigster Bau, Benutzung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauenden waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit. Zu den niederen Arbeiten konnten zwar unwissende Taglöhner aus dem Volke, Männer, Frauen, Kinder, wer sich für gutes Geld anbot, verwendet werden; aber schon zur Leitung von vier Taglöhnern war ein verständiger, im Baufach gebildeter Mann nötig . . . Wir – ich rede hier wohl im Namen vieler – haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft uns selbst kennengelernt und gefunden, daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte.“ Diese Organisation ähnelt dem Fatum. Metschnikoff, der in seinem berühmten Buch „Die Zivilisation und die großen historischen Flüsse“ ihr Schema gezeichnet hat, tut dies mit Wendungen, die von Kafka sein könnten. „Die Kanäle des Jangtse-Kiang und die Dämme des Hoang-ho“, schreibt er, ,sind aller Wahrscheinlidrkeit nach ein Resultat kunstvoll organisierter gemeinsamer Arbeit von … Generationen … Die kleinste Unachtsamkeit beim Stechen dieses oder jenes Grabens oder beim Stürzen irgendeines Dammes, die geringste Nachlässigkeit, ein egoistisches Auftreten seitens eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen in der Sache der Erhaltung des gemeinsamen Wasserreichtums, wird unter so ungewöhnlichen Verhältnissen die Quelle sozialer Übel und weitreichenden gesellschaftlichen Unglücks. Demnach fordert ein Fluß-Ernährer mit Todesdrohen eine enge und dauernde Solidarität zwischen jenen Massen der Bevölkerung, welche oft einander fremd, ja feindlich sind; er verurteilt Jedermann zu solchen Arbeiten, deren gemeinsame Nützlichkeit sich erst mit der Zeit offenbart, und deren Plan sehr oft einem gewöhnlichen Menschen ganz unverständlich bleibt.“

Kafka wollte sich zu den gewöhnlichen Menschen gerechnet wissen. Die Grenze des Verstehens hat sich ihm auf Schritt und Tritt aufgedrängt. Und gern drängt er sie andern auf. Er scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis Großinquisitor zu sagen: „So haben wir denn ein Mysterium vor uns, das wir nicht begreifen können. Und eben weil es ein Rätsel ist, so hatten wir das Recht, es zu predigen, den Menschen zu lehren, daß das, woran gelegen ist, weder die Freiheit, noch die Liebe, sondern das Rätsel, das Geheimnis, das Mysterium ist, dem sie sich unterwerfen müssen – ohne Nachdenken und auch gegen ihr Gewissen.“ Den Versuchungen des Mystizismus ist Kafka nicht immer aus dem Wege gegangen. Von seiner Begegnung mit Rudolf Steiner haben wir eine Tagebuchnotiz, die mindestens in der Gestalt, in der sie publiziert ist, die Stellungnahme Kafkas nicht enthält. Hat er sich ihr entzogen? Sein Verfahren den eigenen Texten gegenüber läßt das keinesfalls als unmöglich erscheinen. Kafka verfügte über eine seltene Kraft, sich Gleichnisse zu schaffen. Trotzdem erschöpft er sich in dem, was deutbar ist, niemals, hat vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen. Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Mißtrauen muß man in ihrem Innern sich vorwärtstasten. Man muß sich Kafkas Eigenart zu lesen vor Augen halten, wie er sie in der Auslegung der genannten Parabel handhabt. Man darf auch an sein Testament erinnern. Die Vorschrift, mit der er die Vernichtung einer Hinterlassenschaft anbefahl, ist den näheren Umständen nach ebenso schwer ergründlich, ebenso sorgfältig abzuwägen, wie die Antworten des Türhüters vor dem Gesetz. Vielleicht wollte Kafka, den jeder Tag seines Lebens vor unenträtselbare Verhaltungsweisen und undeutliche Verlautbarungen gestellt hat, im Tode wenigstens seiner Mitwelt mit gleicher Münze heimzahlen.

Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne. Und die Probe auf das Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. Nach welchen Maßstäben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu enträtseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das aber auch so ausdrücken: den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich zu spielen. Daß sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Möglichkeit aus.

Mit ihren Rollen suchen die Personen ein Unterkommen im Naturtheater wie die sechs Pirandelloschen einen Autor. Beiden ist dieser Ort die letzte Zuflucht; und das schließt nicht aus, daß er die Erlösung ist. Die Erlösung ist keine Prämie auf das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, wie Kafka sagt, „sein eigener Stirnknochen . . . den Weg“ verlegt. Und das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz enthalten, den der „Bericht für eine Akademie“ enthält: „… ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.“ K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung von diesen Dingen aufzugehen. Er wendet sich plötzlich den beiden Herren im Zylinder zu, welche ihn abholen und fragt: „’An welchem Theater spielen Sie.‘ ‚Theater?“ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigen Organismus kämpft.“ Sie beantworten die Frage nicht, aber manches deutet darauf hin, daß sie von ihr betroffen werden. An einer langen Bank, die man mit einem weißen Tuch bedeckt hat, werden alle, welche von nun ab am Naturtheater sind, bewirtet. „Alle waren fröhlich und aufgeregt.“ Engel werden zur Feier von den Statisten gestellt. Sie stehen auf hohen Postamenten, die von wallenden Gewändern überdeckt in ihrem Innern eine Treppe haben. Die Zurüstungen einer ländlichen Kirmes, vielleicht auch eines Kinderfests, bei dem der eingeschnürte, aufgeputzte Knabe, von dem wir sprachen, die Traurigkeit seines Blicks verloren hätte. – Hätten sie nicht die umgebundenen Flügel, so wären diese Engel vielleicht echte. Sie haben ihre Vorläufer bei Kafka. Der Impresario gehört zu ihnen, der zu dem vom „ersten Leid“ befallenen Trapezkünstler ins Gepäcknetz steigt, ihn streichelt und sein Gesicht an das eigene drückt, „so daß er auch von des Trapezkünstlers Tränen überflossen wurde.“ Ein anderer, ein Schutz-Engel oder Schutz-Mann nimmt sich nach dem „Brudermorde“  des Mörders Schmar an, der „den Mund an die Schulter des Schutzmannes gedrückt“ leichtfüßig von ihm davongeführt wird. – In die ländlichen Zeremonien von Oklahoma klingt der letzte Roman Kafkas aus. „Bei Kafka – hat Soma Morgenstern gesagt – herrscht Dorfluft wie bei allen großen Religionsstiftern.“ Hier darf man um so mehr an die Darstellung der Frömmigkeit durch Laotse erinnern, als Kafka in dem „nächsten Dorfe“ ihr die vollkommenste Umschreibung gewidmet hat: „Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, | Daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: | Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, | Ohne hin und her gereist zu sein.“ Soweit Laotse. Kafka war auch ein Paraboliker, aber ein Religionsstifter war er nicht.

Betrachten wir das Dorf, das am Fuße des Schloßbergs liegt, von dem aus K.s vorgebliche Berufung als Landvermesser so rätselhaft und unerwartet bestätigt wird. Brod hat, im Nachwort zu diesem Roman, erwähnt, daß Kafka bei diesem Dorf am Fuße des Schloßbergs eine bestimmte Siedlung, Zürau im Erzgebirge, vorgeschwebt habe. Wir dürfen aber noch ein anderes Dorf in ihm erkennen. Es ist das einer talmudischen Legende, die der Rabbi als Antwort auf die Frage erzählt, warum der Jude am Freitagabend ein Festmahl rüstet. Sie berichtet von einer Prinzessin, die in der Verbannung, von ihren Landsleuten fern, und in einem Dorf, dessen Sprache sie nicht verstehe, sclmachte. Zu dieser Prinzessin kommt eines Tages ein Brief, ihr Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. – Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in das sie verbannt ist, der Körper. Und weil sie dem Dorf, das ihre Sprache nicht kennt, anders von ihrer Freude nichts mitteilen kann, rüstet sie ihm ein Mahl. – Mit diesem Dorf des Talmud sind wir mitten in Kafkas Welt. Denn so wie K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper; er entgleitet ihm, ist ihm feindlich. Es kann geschehen, daß der Mensch eines Morgens erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde – seine Fremde – ist seiner Herr geworden. Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka, und darum ist er nicht in Versuchung gekommen, Religionsstifter zu werden. Zu diesem Dorf gehört auch der Schweinestall, aus dem die Pferde für den Landarzt hervorkommen, das stickige Hinterzimmer, in welchem Klamm, die Virginia im Munde, vor einem Glas Bier sitzt, und das Hoftor, an das zu schlagen den Untergang mit sich bringt. Die Luft in diesem Dorf ist nicht rein von all dem Ungewordenen und Überreifen, das so verderbt sich ineinandermischt. Kafka hat sie sein Lebtag atmen müssen. Er war kein Mantiker und auch Religionsstifter. Wie hat er es in ihr ausgehalten?


 

 

Das Bucklicht Männlein

Knut Hamsun, so erfuhr man vor längerer Zeit, habe die Gepflogenheit, hin und wieder den Briefkasten des Lokalblatts der kleinen Stadt, in deren Nähe er wohnt, mit seinen Ansichten zu beschicken. Es fand vor Jahren in dieser Stadt ein Schwurgerichtsprozeß gegen eine Magd statt, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte. Sie wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bald darauf erschien im Lokalblatt eine Meinungsäußerung vom Hamsun. Er sagt an, er werde einer Stadt den Rücken kehren, welche für eine Mutter, die ihr Neugeborenes töte, eine andere Strafe kenne als die schwerste; wenn schon nicht den Galgen, dann das lebenslängliche Zuchthaus. Es vergingen einige Jahre. „Segen der Erde“ erschien darinnen die Geschichte einer Dienstmagd, die das gleiche Verbrechen begeht, die gleiche Strafe erleidet und, wie der Leser deutlich erkennt, gewiß keine schwerere verdient hatte.

Anmerkung:

Das bucklicht Männlein

(sp. 18. Jh.)

Will ich in mein Gärtlein gehen,
will mein‘ Zwiebeln gießen,
steht ein bucklicht Männlein da,
fängt als an zu niesen.

Will ich in mein Küchel gehen,
will mein Süpplein kochen,
steht ein bucklicht Männlein da,
hat mein Töpflein brochen.

Will ich in mein Stüblein gehn,
will mein Müslein essen,
steht ein bucklicht Männlein da,
hat’s schon halber gessen.

Will ich auf mei’n Boden gehn,
will mein Hölzlein holen,
steht ein bucklicht Männlein da,
hat mir’s halber g’stohlen.

Will ich in mei’n Keller gehn,
will mein Weinlein zapfen,
steht ein bucklicht Männlein da,
tut mir’n Krug wegschnappen.

Setz ich mich ans Rädlein hin,
will mein Fädlein drehen,
steht ein bucklicht Männlein da,
lässt das Rad nicht gehen.

Geh ich in mein Kämmerlein,
will mein Bettlein machen,
steht ein bucklicht Männlein da,
fängt als an zu lachen.

Wenn ich an mein Bänklein knie,
will ein bisschen beten,
steht das bucklicht Männlein da,
fängt als an zu reden:

Liebes Kindlein, ach, ich bitt,
bet fürs bucklicht Männlein mit!

 


 

Sancho Pansa

In einem chassidischen Dorf, so erzählt man, saßen eines Abends zu Sabbath-Ausgang in einer ärmlichen Wirtschaft die Juden. Asässige waren es, bis auf einen, den keiner kannte, einen ganz ärmlichen, zerlumpten, der im Hintergrunde im Dunkeln einer Ecke kauerte. Hin und her waren die Gespräche gegangen. (…)

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